Einen Sommer voraus

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Ich werde manchmal gefragt ob ich nicht was Interessantes erzählen kann. Nö, kann ich nicht. Keine Ahnung wie das geht, liegt wahrscheinlich an meinen Dorf-Genen. Denn wenn man vom Dorf kommt, dann kann man ruhigen Gewissens mit allem angeben, was einem so in den Sinn kommt, weil man nämlich von vorne herein weiß, das es nichts gibt, was irgend einen Menschen auf der Welt auch nur ansatzweise beeindrucken könnte. Weil man kommt ja vom Dorf. Und deswegen werde ich auch nicht müde mehrfach auf jeden Furz hinzuweisen, den ich mal gelassen habe. Ich mein, watt soll auch passieren? Im schlimmsten Fall sagt mal jemand: "Oh, tatsächlich? Das habe ich auch mal geschafft. Da war ich aber noch klein und habe auf dem Bauernhof gelebt."

Ich meine, was soll es auch? Wenn ich jetzt anfangen würde jeden Menschen zu mögen, nur weil er mir nichts getan hat, dann wäre ich ja morgen früh noch dran!

Man fragt ja auch nicht vorher höflich nach, wenn man den Arsch voll hat: "Du, fremder Mann, sag mal, hast Du vielleicht Lust dass ich Dir meine gesamte Lebensgeschichte an die Backe texte?" Wie eben in der Bahn wieder geschehen, herrlich! Das war so:

Ich komme von der Schaufel, total angepisst, in erster Linie natürlich vom schaufeln selber, aber was noch viel schlimmer ist: Auf dem Weg zur Bahn rennen überall diese armseligen Ottos mit Handy in der Gegend rum, auf denen sie so laut es nur geht (also so laut wie in etwa zwei Fürze) ihre scheiß Lieblingsmusik hören. Dr.Dre in allen Ehren, Alter, aber Deine geilen Öl-Strähnchen in Kombination mit der Jeans in Deinen Tennissocken macht mir sofort wieder gute Laune! Danke!

Ah! Tag gerettet! Geht doch. Ab in die Bahn. Hinter mir ein nach Schnaps stinkender Penner mit kurzen, weißen Haaren und Gitarrentasche, der sich selbstverständlich sofort zu drei leicht angepissten Mamis setzt und die umgehend mit tierisch guten Lebensweisheiten lallend vollschwallt, so von wegen: "Ah, endlich kommt wieder der Sommer. Also ich weiß nicht, aber im Winter hab ich irgendwie immer den Blues, geht ihnen das auch so?"

Während die Mamis verzweifelt versuchen den Typen zu ignorieren erzählt er weiter: "Ja ich komm ja aus Hamburg, aber ich habe mich in die Stadt hier verliebt. Und im Sommer kommt eine bezaubernde, junge Dame, die sich in mich verliebt. Ich weiß zwar noch nicht wie die heißt, aber wir werden einen schönen Sommer zusammen verbringen. Das weiß ich einfach."

Ja! Das ist mal eine Einstellung! Und eine 1,5 Liter Plastikflasche vom Aldi hält er auch noch in der Hand. Selbstverständlich mit Schnaps abgefüllt, wovon selbstredend die Hälfte schon weg ist. Und erstmal noch einen Schluck, und ungefragt sofort weiterreden, bloß schnell keine Zeit verlieren:

"Aber meine Heimat könnte Köln nie werden. Da könnte ich noch zehn Mal auf der Gitarre BAP "Verdamp lang her" spielen, oder sogar zwanzig Mal "Trink doch eene mit. Sinnlos."

Klingt schon wieder einleuchtend! Der säuft scheinbar pure Logik, also Hut ab! Dann denkt er wieder kurz nach, ganz so wie sich das für große Denker geziemt, und sagt:

"Ja und natürlich bin ich Alkoholiker, klar."

...?!

Ich falte mich einmal quer durch die Bahn! Natürlich ist er Alkoholiker! Ja watt denn sonst? Super! Ganz ohne Überleitung, einfach so halt. Braucht ihn auch keiner nach zu fragen, dass er so eine Antwort gibt! Und dann auch noch so ganz lässig ein kurzes "klar" hinterher geschoben, um das selbstverständlichste der Welt auch noch mal zu unterstreichen. Was ein totaler Gott!

Dann legt er die Stirn in Falten, denkt kurz nach, während die ersten spätwinterlichen Sonnenstrahlen ihn zum blinzeln zwingen, nimmt einen tiefen Schluck Schnaps im Angesicht der angeekelten Mamis, um dann zu der durchschlagenden Erkenntnis zu kommen: "...aber ist nicht schlimm, weil... bin ich ja schon lange!"

Ich überlege kurz ob ich nicht doch Applaus spenden sollte, oder ihn wenigstens in die Kneipe einlade, aber als er grade anfängt zu spekulieren dass Deutschland Fußballweltmeister werden könnte, wenn Costa Rica die Damen-Nationalmannschaft schicken würde (genial!) muss ich leider, leider aussteigen.

Ob der wohl vom Dorf kam? Also wenn nicht, dann hat der aber die Sache mit dem Dorf-Gen ziemlich gut verstanden, meine Fresse, ich bin beeindruckt! Aber: Obwohl der Typ locker mein Vater hätte sein können, bin ich dem doch schon einen Sommer voraus! Ich habe nämlich schon hundertfach "Verdamp lang her" von BAP gespielt, und mindestens tausendfach "Trink doch eene mit", und vor allen Dingen, was am Allerwichtigsten ist: Von meiner bezaubernden, jungen Dame, die mich liebt, und die ich liebe, und mit der ich einen weiteren, schönen Sommer verbringen werde, weiß ich schon den Namen!

Und jetzt kann mich die ganze Welt mal Arsch lecken, ich rufe meine Carolita an und sage ihr was sie doch für eine verflucht feuchte Sau ist, und dass ich für unsere zukünftigen Kinder Sören und Torben notfalls bis zu deren fünfzigsten Geburtstag jeden Abend "Kreuzberger Nächte sind lang", "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" und "Hey Kölle du biss Stadt am Rhing" auf Beats von Dr.Dre auf dem Handy spiele, mit meiner Jeans in rosa-blau-gekringelte Tennissocken gestopft, wenn sie will in der Straßenbahn in Costa Rica, mir scheißegal!

Dafür gehe ich sogar arbeiten, mir auch egal. Ich kann das Gejammer eh nicht mehr hören von wegen man hätte dann nichts mehr vom Tag. Watt soll ich denn auch mit Tag?! Ich hab schließlich ne Carolita! Mann, kann das Leben schön einfach sein! Prost!

Autor: KOLLEGE 03/06